Synonyme
Entbindungslähmungen, Morbus Erb-Duchenne, Dejerine-Klumpke-Lähmung (Brachial birth palsy, Obstetric paralysis, Obstetric brachial plexus lesion (OBPL))
Definition
Bei der geburtstraumatischen Arm-Plexus-Lähmung handelt es sich um eine während der Geburt entstandene Schädigung des Plexus brachialis (Arm-Nervengeflecht) (Spinalnerven C 4/5 bis Th 1/ 2). Weil sich wachstumsbedingt Unterschiede ergeben sind die traumatischen Plexus brachialis-Läsionen beim Erwachsenen hiervon abzugrenzen.
Epidemiologie
Die Häufigkeit der geburtstraumatischen Plexus-Lähmung wird zwischen 0,4 und 2 pro 1000 Geburten angegeben. Nachdem die Rate zu Beginn des 20. Jahrhunderts höher gelegen hat, nahm sie seit den 50er Jahren ständig ab, wobei in aktueller Zeit ein abermaliger Anstieg, wahrscheinlich infolge der Zunahme des durchschnittlichen Geburtsgewichts, zu verzeichnen ist.
Ätiologie, Pathogenese
Ursache für die geburtstraumatische Plexus-Lähmung ist der während des Geburtsvorgangs ausgeübte Zug an den Spinalnerven. Ein erhöhtes Risiko besteht für schwere Neugeborenen (mehr als 4 kg) oder bei Steißlagengeburten.
Klinik, Diagnostik, Klassifikation
Trotz der großen Variabilität der Schädigung gibt es bestimmte wiederkehrende Lähmungsmuster die neben Ausmaß und Schwere der Schädigung, des postpartalen Regenerationszeitraums bzw. der Regenerationsfähigkeit zu unterschiedlichen Einteilungen geführt haben:
Typ Erb-Duchenne (C5 - C6)
- obere Arm-Plexus-Lähmung mit 80% häufigste Variante
- typisches Erscheinungsbild: schlaff herabhängender Arm
- Schulter: Lähmung M. deltoideus, M. supraspinatus, M. infraspinatus, M. teres minor: Ausfall der Abduktion (seitliches Abheben) und Außenrotation im Schultergelenk (Adduktions-Innenrotationshaltung)
- Ellbogen: Lähmung M. biceps, M. coracobrachialis, M. supinator: ausgefallene Beugung, Pronationshaltung des Unterarms bei gestrecktem Ellbogengelenk
- Hand- und Finger: Beugehaltung
Erweiterte Form (C5 - C8 / Th1)
- 20%, praktisch komplette Armlähmung
- Horner-Syndrom (Myosis, Ptosis, Enophthalmus) bei Läsion in Höhe Th1
Typ Dejerdine-Klumpke (C8 - Th1)
- Sehr seltene isolierte untere Arm-Plexus-Lähmung
- Ausfall der Ober- und Unterarmstreckmuskulatur, der Fingerbeuger und Handbinnenmuskeln (Pfötchenstellung), Horner-Trias.
Primäre Therapie
Nach Diagnosestellung sind von Geburt an krankengymnastische Übungsbehandlungen auf entwicklungsphysiologischer Basis und ergotherapeutische Maßnahmen erforderlich, um die passive Beweglichkeit und vorhandene Muskelfunktion zu erhalten und bei Reinnervationstendenz wiederkommende Muskelfunktionen zu steigern. Ziel der konservativen Frühbehandlung ist es zu erreichen, dass die betroffene Hand eingesetzt wird und dass Kontrakturen vermieden werden. Das tägliche passiv durchzuführende Bewegen der Gelenke kann zum Beispiel bei jeder Mahlzeit zwei bis drei Minuten erfolgen, um insbesondere Außen- und Abduktionskontrakturen zu vermeiden.
Bei den geburtstraumatischen Arm-Plexus-Läsionen orientiert man sich zunächst am Ausmaß der Lähmung und der Regenerationstendenz des M. biceps. Bei kompletten Lähmungen und wenn keine Bizepsregeneration nach drei bis sechs Monaten eingetreten ist, ist eine operative neurochirurgische Rekonstruktion des Plexus brachialis indiziert. Ziel ist die Wiederherstellung der Nervenkontinuität durch Nerveninterponate sowie Reanastomosierungen der spinalen Nerven von proximal nach distal mit hoher Priorität für die Reinnervation der Hand. Mit Wiederherstellung der Handfunktion steigt die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind die betroffene Extremität nutzt und in sein Körperschema integriert.
Prognose
Beim größten Teil der Säuglinge kommt es zu einer vollständigen Restitution (Wiederherstellung), wobei die Prognose entscheidend von Art und Umfang der Schädigung abhängt. Hohe Plexus-Läsionen haben eine bessere Prognose als Total-Läsionen. Eine klinische Verbesserung nach dem 12. bis 18. Lebensmonat ist im weiteren Verlauf kaum zu erwarten.
Sekundäre Therapie
Trotz intensiver konservativer Maßnahmen und frühzeitiger neurochirurgischer Intervention verbleiben in 38% bis 70% der Fälle Funktionsausfälle und sekundäre Deformitäten im Bereich der Schulter (Innenrotationskontraktur, Subluxation, Dislokation, knöcherne Anomalien).
Abhängig vom Alter, der passiven Beweglichkeit und des Gelenkstatus bestehen verschiedene operative Behandlungsmöglichkeiten: Funktionsverbessernde Operationen bei Lähmungen - obere Extremitäten.
Muskeltranspositionen
- Wiederherstellung der Außenrotation: Umwandlung von M. latissimus dorsi und M. teres major von Innen- zu Außenrotatoren durch Verpflanzung des Ansatzes (L’Episcopo-Procedere)
- bei Schulterinstabilität und Ausfall der aktiven Abduktion (M. deltoideus, M. supraspinatus): Verlagerung des M. trapezius
Ventrales Kapselrelease
- Wiederherstellung der passiven Außenrotation: Einbeziehung der ventral inserierenden Muskeln (M. pectoralis major, M. subscapularis), wird beim L’Episcopo-Procedere bei vorliegender Innenrotationskontraktur additiv durchgeführt
Außenrotationsosteotomie des Humerus
- Derotation des Humerus: Rotationssektor wird bei bestehender Innenrotationskontraktur zugunsten der Außenrotation verbessert
- Außenrotationsosteotomie des Humerus: Der Humerus (Oberarmknochen) wird im mittleren Drittel durchtrennt und der untere Humerusanteil um 30° bis 60° außenrotiert. Die Stabilisierung erfolgt mit einer Plattenosteosynthese. Der Rotationssektor wird dadurch zugunsten der Außendrehung verschoben, so dass nach der Operation eine ungestörte und physiologischere Beugung des Ellbogens ohne Anschlagen des Unterarms am Brustkorb oder kompensatorische Abduktions-Anteversionsbewegung in der Schulter möglich ist.
Prognose, Ergebnisse
Mit dem L’Episcopo-Procedere zur Verbesserung der Außenrotation werden im allgemeinen gute klinisch funktionelle Ergebnisse erzielt. Die Resultate einer Transposition zur Wiederherstellung der Schulterabduktion bei Paresen nach geburtstraumatischer Lähmung sind insgesamt eher unbefriedigend, die nach ventralem Release und Verlagerung des M. subscapularis werden unterschiedlich bewertet, wobei insbesondere eine Rezidiv-Rate von bis zu 30% berücksichtigt werden muss. Die Rotationsosteotomie des Humerus ist eine zuverlässige Methode mit guten Langzeitergebnissen.